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Die Zehn Ochsen sind eine Bildmeditation des chinesischen
Zen-Meisters Kakuan; sie repräsentieren die Geschichte eines spirituellen Lernprozesses:
Jemand sucht den Ochsen, findet ihn, bringt ihn nach Hause, um am Ende festzustellen, daß
nichts bleibt außer der Einsicht: " ... ich brauche keine Magie, um mein Leben zu
verlängern; jetzt, vor mir, werden die toten Bäume lebendig."
(Paul Reps. Ohne Worte, ohne Schweigen. 101
Zen-Geschichten und andere Zen-Texte aus vier Jahrtausenden. München 1987, S. 186. Eine
ausführlichere Darstellung findet sich in: Der Ochs und sein Hirte. Zen-Augenblicke.
München 1994)
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1 Die Suche nach dem Ochsen
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Auf der Weide dieser Welt
teile ich endlos das hohe Gras
auf der Suche nach dem Ochsen.
Ich folge namenlosen Flüssen,
verliere mich auf verschlungenen
Pfaden ferner Berge;
meine Kräfte gehen zu Ende
und meine Energie ist erschöpft;
ich kann den Ochsen nicht finden.
Ich höre nur die Zikaden zirpen
im nächtlichen Wald.
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2 Das Entdecken der Fußstapfen
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Am Flußufer, unter den Bäumen,
entdecke ich die Fußstapfen!
Sogar unter dem duftenden Gras
sehe ich seine Spuren.
Tief in entlegenen Bergen
sind sie zu finden.
Diese Fährte kann nicht besser versteckt sein
als die eigene Nase,
wenn man gen Himmel schaut.
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3 Das Wahrnehmen des Ochsen
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Ich höre den Gesang,
der Nachtigall.
Die Sonne ist warm,
der Wind ist mild;
die Weiden am Ufer
sind grün.
Hier kann sich kein
Ochse verstecken!
Welcher Künstler
vermag dieses schwere Haupt,
diese herrlichen Hörner
zu malen?
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4 Das Einfangen des Ochsen
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Ich bezwinge ihn
in einem schrecklichen
Kampf.
Sein großer Wille
und seine Kraft
sind unerschöpflich.
Er stürmt
auf das hohe Plateau
weit über den Wolkennebeln,
oder er steht
in einer unzugänglichen
Schlucht.
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5 Das Zähmen des Ochsen
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Peitsche und Strick sind nötig,
sonst läuft er weg,
eine staubige Straße hinab.
Ist er gut erzogen,
so wird er
auf ganz natürliche Weise
sanft.
Und dann gehorcht er
seinem Meister
uneingeschränkt.
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6 Das Heimreiten auf dem Ochsen
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Ich besteige den Ochsen
und reite
langsam nach Hause zurück.
Die Stimme meiner Flöte
klingt durch den Abend.
Ich dirigiere
den endlosen Rhythmus,
indem ich mit Schlägen der Hand
die pulsierende Harmonie
abmesse.
Braucht der noch Worte,
der diesen Sinn versteht?
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7 Der Ochse verschwindet
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Rittlings auf dem Ochsen
erreiche ich mein Heim.
Ich bin heiter.
Es gibt keinen Ochsen mehr.
Die Dämmerung
ist hereingebrochen.
In glückseliger Ruhe
habe ich in meiner
strohgedeckten Hütte
Peitsche und Seil
zurückgelassen.
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8 Ochse und Selbst verschwinden
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Peitsche, Seil, Mensch und Ochse -
alle verschmelzen zu Nichts.
Dieser Himmel ist so unermeßlich,
daß keine Botschaft
ihn beflecken kann.
Wie könnte eine Schneeflocke
im wütenden Feuer bestehen?
Hier sind die Fußstapfen
der Partriarchen.
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9 Das Erreichen der Quelle
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Zur Quelle zurückgekehrt.
Aber die Schritte waren umsonst.
Besser wäre man blind und taub gewesen
von Anfang an.
Im wahren Heim wohnen,
unbekümmert um das Draußen -
Der Fluß strömt geruhsam,
und die Blumen sind rot.
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10 In der Welt
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Barfuß und mit nackter Brust
mische ich mich
unter die Menschen der Welt.
Meine Kleider
sind zerfetzt und staubbedeckt,
und ich bin immer
glückselig.
Ich brauche keine Magie,
um mein Leben zu verlängern;
jetzt, vor mir,
werden die toten Bäume
lebendig.
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Doch ganz so einfach ist
das mit dem Lernen nun doch nicht. Wir spüren, daß wir gefordert
sind; wir spüren die Anspannung, konzentrieren die Kräfte.
Vielleicht kommt uns eine Situation in den Sinn, die an eine große, schwere
Prüfung erinnert. Jetzt gilt es. Hic Rhodos hic salta. Und - wir
haben es doch tatsächlich geschafft.
Wirklich geschafft? Wir
merken, daß wir jetzt vielleicht den Beweis erbracht haben, daß wir
wirklich etwas Neues gelernt haben. Vielleicht wurde es uns sogar
testiert. Auf jeden Fall glauben wir, etwas Festes in Händen zu
halten. Indes - wir merken, es stockt und bockt - dieses Neue, was wir
glauben, fest in Händen zu halten. Wir müssen immer noch darum
kämpfen, um es wirklich behalten zu können.
Und wie können wir es
genießen - siegreich geblieben zu sein, bei der Sache, alles fest im
Griff. Jetzt können wir uns etwas Ruhe gönnen; können uns endlich
auf unseren wohlerworbenen Lorbeeren ausruhen. Wie schön das Leben
sein kann!
Einer der seltenen Momente
im Leben: Einkehren in sich selbst. Ruhe - nichts sonst mehr. Was
schert mich mein hart errungenes Wissen.
Aber spiele ich jetzt
überhaupt noch eine Rolle. Was bin ich verglichen mit dem
Kosmos? Ich fühle mich so klein, daß zuletzt auch meine Kleinheit
verschwindet. Das Ich verschwindet und mit ihm alle
Vorstellungen.
Für was alle
Anstrengungen? War das nötig? Hat sich das alles gelohnt? Hetzten wir
nicht einer Chimäre hinterher im irrigen Glauben, es wäre etwas zu
erreichen, etwas zu gewinnen? Zählt nicht einfach das Bleiben im
Augenblick?
Etwas gibt Antwort. Ich bin
ein Verwandelter, SELBST geworden. Was brauche ich all das Wissen?
Ewig leben, warum? Selbst zu sein genügt, im Hier und Jetzt sind
Mensch und Ding lebendig.
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